Die Kurzgeschichte für den März

Grauchen

Teil 2

Letztendlich hatte ich fast einen kompletten Ärmel gestrickt, als ich endlich unsere Haustür klappen hörte. Ich sprang auf und begann sofort, meine Mutter mit Fragen zu bestürmen: “Was ist passiert? Wer ist gestorben? Ist etwas mit Frau Baier?” “Frau Baier geht es gut!” Meine Mutter schob mich beiseite. “Setz dich wieder hin, ich erzähle dir gleich alles. Lass mir nur einen kurzen Moment Ruhe!”
 

Meine Mutter ging in die Küche und ich zurück zu meinem Sessel. Nervös zappelte ich darauf herum, bis meine Mutter endlich zu mir kam. In der Hand trug sie zwei Becher eines dampfend heißen Getränks, von denen sie mir einen reichte. “Wie gut, dass ich heute morgen etwas Kaffee ergattert habe. Den haben wir uns jetzt beide verdient.” Sie zog einen anderen Sessel näher an meinen und setzte sich. “Und nun hör dir an, was ich eben erlebt habe:
Die Monika wollte heute Morgen nicht in die Schule gehen. Grauchen habe ihr gesagt, es wäre besser, wenn sie heute im Haus bliebe, die Frau Schröder sähe so komisch aus. Ilse ist daraufhin sehr wütend geworden. ‘Das kommt überhaupt nicht in Frage!’, hat sie ihre Tochter angeschrien. ‘Es reicht mir schon, dass du abends nichts anderes als dieses blöde Vieh im Kopf hast. Vormittags wirst du gefälligst zur Schule gehen, wie jedes andere Kind auch!’
Mit hängendem Kopf ist die Monika dann losgezogen, hat in der Schule aber überhaupt nicht aufgepasst. Erst hat ihre Lehrerin da noch drüber weggesehen, weil die Monika ja sonst eine eifrige Schülerin ist, aber irgendwann war es ihr dann doch zu viel und sie hat das Mädchen nach vorne gerufen. ‘Was ist denn heute los mit dir? Geht es dir nicht gut?’, hat sie gefragt. Doch die Monika hat nur mit den Schultern gezuckt. Nach der Reaktion ihrer Mutter traute sie sich nicht, ihr zu erzählen, dass Grauchens Hilferufe in ihrem Kopf immer lauter wurden. Nachdem die Lehrerin feststellen musste, dass Monika nicht zum Reden zu bringen war, durfte sie sich wieder hinsetzen.
Ihre Unaufmerksamkeit blieb jedoch. Vielmehr steckte sie mittlerweile die halbe Klasse mit ihrer Zappeligkeit an. Nun wurde die Lehrerin ernsthaft böse. ‘Nun reicht es mir. Monika, du benimmst dich jetzt sofort wieder normal! Und außerdem wirst du eine Stunde nachsitzen, um das aufzuarbeiten, was du heute nicht mitbekommen hast!’ Monika sah ihrer Lehrerin mit großen Augen an. ‘Das... das geht nicht!’, stammelte sie verzweifelt. ‘Und ob das geht!’, fuhr ihre Lehrerin sie an, ‘Und nun sei endlich still!’ Tränen traten in Monikas Augen. Was sollte sie nur machen? Doch Grauchens Hilferuf war stärker als ihre Verzweiflung und so war sie aufgesprungen und einfach aus dem Klassenzimmer und von dort aus auf direktem Wege nach Hause gestürmt.

Als ich bei den Baiers ankam, stritten sich Monika und ihre Mutter heftig. Monika wollte offenbar, dass Ilse mit dem Zweitschlüssel, den sie für Notfälle hat, Frau Schröders Wohnung betreten und nach Frau Schröder sehen sollte. Ilse weigerte sich jedoch strikt und schrie auf ihre Tochter ein, sie solle endlich mit diesem Unfug von wegen Grauchen aufhören.
Ich beobachtete die beiden eine Weile und beschloss einzuschreiten. Monika begann mir leid zu tun, denn ihre Miene wurde immer verzweifelter. ‘Das schadet doch nicht, Ilse‘, sagte ich, ‘lass uns einfach den Schlüssel nehmen und uns vergewissern, dass unten alles in Ordnung ist. Frau Schröder wird es uns nicht übel nehmen, schließlich ist es doch nett, wenn sich jemand um einen sorgt!’ Ilse zögerte. ‘Na, gut, von mir aus... Ich weiß zwar nicht, was das bringen soll, aber bitte’, murrte sie und fügte dann mit scharfem Ton an Monika gewandt hinzu: ‘Aber danach ist endgültig Schluss damit, dann will ich das Wort Grauchen aus deinem Mund nie wieder hören!’ Monika nickte erleichtert.
Wir drei stiegen die Treppe hinunter und Ilse schloss die Tür auf. Sofort fiel mir ein seltsamer Geruch auf. Ilse warf mir einen kurzen Blick zu. Auch sie schien etwas zu bemerken. ‘Gas’, stellte sie fest, ‘es riecht hier eindeutig nach Gas!’ Ich drängte mich an ihr vorbei und lief in Richtung Küche und was ich dort sah, wollte ich zunächst nicht glauben: Mitten in der kleinen Küche lag Frau Schröder. Ihr sanfter Gesichtsausdruck ließ mich sofort annehmen, dass sie nicht mehr lebte. Während ich wie versteinert auf meine alte Freundin starrte, ging Ilse auf den Herd zu und betätigte energisch zwei Schalter. Dann riss sie die Fensterflügel auf. ‘Das war knapp!’, sagte sie und blickte mich ungläubig an. ‘Dabei hätte gut und gerne das ganze Haus in die Luft fliegen können!’
Ich sah mich um und entdeckte einen Topf mit Wasser in der Nähe des Spülbeckens und eine Teekanne auf der Anrichte. ‘Muss beim Versuch Wasser aufzusetzen einfach umgefallen sein’, sagte ich tonlos. Ilse strich mir kurz über den Arm. ‘Ich werd mal den Notarzt rufen, auch wenn ich nicht denke, dass er noch helfen kann. Wie gut, dass dies eins der wenigen Häuser mit Telefon ist!’
Es konnte dann tatsächlich nur noch der Tod Frau Schröders festgestellt werden. ‘Vermutlich ein Herzinfarkt’, sagte der Arzt. Nachdem Frau Schröder dann abgeholt worden war, blieben Ilse und ich noch eine Zeitlang in der Wohnung, erinnerten uns an unsere Freundin und Nachbarin und versuchten zu begreifen, was wir eben erlebt hatten. Es gelang uns nicht. Wie hatte Monika das nur wissen können?
Als wir die Wohnung schließlich verließen, fanden wir Monika auf der Treppe sitzend. Sie hielt Grauchen ganz fest im Arm und diese kuschelte sich behaglich schnurrend an das Mädchen. ‘Bist du mir noch böse, Mama?’, fragte sie ängstlich. Ilse schüttelte nur zum wiederholten Mal an diesem Tag ungläubig den Kopf. ‘Darf Grauchen nun bei uns bleiben?’, fügte das Mädchen mit hoffnungsvollem Blick hinzu. ‘Aber natürlich!’, sagte Ilse und nahm ihre Tochter samt Grauchen in die Arme. Das Kätzchen schien sofort zu verstehen, dass nun keine Gefahr mehr drohte und es für immer bei Monika bleiben konnte und bedankte sich bei Ilse, indem es, sobald es sie erreichen konnte, zärtlich sein Köpfchen an ihrem Arm rieb.”
Daraufhin schwieg meine Mutter und ich blickte sie staunend an. Ohne darüber sprechen zu müssen, war uns klar, dass wir Papa nur eine abgeschwächte Version der Ereignisse erzählen würden und so war er am Ende der Einzige in unsere Straße, der Monika weiterhin für verwirrt hielt.
Abends blätterte ich in meinem Tagebuch zu dem Eintrag von vor ein paar Monaten zurück. ‘An Monikas Verbindung zu Grauchen könnte was dran sein...’ stand dort. Ich lächelte und schlug eine neue Seite meines Tagebuches auf und begann zu schreiben. ‘Monika und Grauchen haben heute vielen Menschen das Leben gerettet. An einer geistigen Verbindung zwischen den beiden habe ich überhaupt keinen Zweifel mehr....’

Ende

©  Britta Martens 2007

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