Die Katzengeschichte für den Juni:

Ausflüge

Sind Sie auch Katzenhalter?

Haben Sie eine kleine, verschmuste Katze, die den lieben langen Tag im Körbchen liegt? Oder einen Kater mit Freigang, der nachts die Nachbarschaft erkundigt und am nächsten Morgen durch die Katzenklappe geschlendert kommt, mit einem Ausdruck im Gesicht als könne er kein Wässerchen trüben könne?

Sie glückliche Person, dann halten sich Ihr wöchentlichen Adrenalinschübe ja in Grenzen!

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Ich teile meine Wohnung mit einem Kater. Nicht mit irgendeinem, versteht sich. Es ist ein grau-schwarz getigerter Kater mit kräftigem, muskulösen Körperbau (der auf seine Maine Coon-Mama zurückzuführen ist), dichtem Fell, buschigem Schwanz und Luchs-Ohren. Lange weiße Barthaare und Augenbrauen zieren sein süßes Gesichtchen und seine grünen Augen funkeln stets unternehmungslustig.

Eigentlich wurde er von mir auf den Namen Kasimir getauft. Dies geschah, als ich ihn als kleines, graues Fellknäuel bekam und noch nicht wusste, was auf mich zukommen würde.

Inzwischen sind einige Jährchen vergangen und ich bin dazu übergegangen, ihn insgeheim „Rambo" zu nennen. Und dies mit gutem Grund.

Sie glauben, eine Katze, die Sie eben noch schläfrig-blinzelnd von ihrem Schlafplatz auf dem Sofa anschaut, könne nichts Schelmisches im Schilde führen, sobald Sie ihr den Rücken zudrehen? Sie irren!

Sie glauben, die auf dem Herd in einer Pfanne brutzelnden Fischfilets seien uninteressant für einen Stubentiger? Sie irren!

Sie denken, der bunte Frühlingsstrauß, den Sie gerade auf dem Sideboard in einer hübschen Vase dekoriert haben, sei sicher? Sie irren!

Ich habe nicht mitgezählt, wie viele Blumenvasen im Laufe der Jahre zerbrochen, wie viele Seidenstrumpfhosen zerrissen und wie viele Fischstäbchen, Salamibrötchen und Thunfischpizzen stiebitzt und weg gefuttert worden sind, aber es waren eine Menge, glauben Sie mir!

Doch dies allein trug Kasimir natürlich nicht seinen Zweitnamen bei. Nein, was mich veranlaßte, ihn umzutaufen, ist seine Vorliebe für schräge Ausflüge jeglicher Art.

Sie müssen nämlich wissen, dass Rambo - pardon, Kasimir, eigentlich ein reiner Stubentiger ist. Aber er selbst nimmt es damit nicht so genau und er hat eine Vorliebe für verwegene Touren.

Kasimir liebt es, bei jedem Öffnen der Haustür pfeilschnell ins Treppenhaus zu laufen. Er rennt den ersten Treppenabsatz hinunter, wartet dann und schaut treuherzig nach oben, ob Frauchen sich die Mühe macht, schimpfend hinterher zu rennen. Ist dies der Fall, lebt seine kleine Katzenseele auf. Mit Begeisterung springt er die übrigen drei Stockwerke bis zur Kellertür hinunter, wo er erneut auf die Ankunft seines Frauchens wartet. Ist sie dann endlich ebenfalls an der Kellertür angelangt, schlägt der Kater einen Haken, flitzt zwischen ihren Beinen hindurch und ist schon wieder den ersten Treppenabsatz oben.

Sein hämisches Grinsen währt nur kurz, da er sich beeilen muss, nach oben zu rennen. Frauchen trägt nämlich inzwischen einen etwas grimmigen Gesichtsausdruck zur Schau.

Kasimir wartet schließlich mit unschuldigem Blick vor der offenen Haustür, bis Frauchen, mittlerweile schnaufend, ebenfalls dort anlangt. Dann schlüpft er schnell nach drinnen und schnurgerade zu seinem Futternapf - als wäre nichts gewesen.

Doch Kasimir begnügt sich nicht allein mit „Indoor-Ausflügen", nein, das wäre auf Dauer ja zu langweilig. Den Kater zieht es in die Welt, doch nicht die Ankunft ist sein Ziel, sondern der Weg dorthin!

Die erste Wohnung, die ich mit Kasimir teilte, besaß einen Balkon. Es war ein Sichtschutz aus Holzbrettern angebracht und ich hatte Kübel mit typischen Balkonpflanzen darauf stehen. Das Balkongeländer bestand aus einem etwa fünf Zentimeter breiten, viereckigen Eisenrohr.

Im Sommer lag ich oft auf einem Liegestuhl draußen, während Kasimir sich auf seiner kleinen Frottierdecke die Sonne auf den plüschigen Bauch scheinen ließ und träge nach Fliegen blinzelte, die ihn zu ärgern versuchten.

Viele Tage, Wochen, Monate ging dies gut. An einem Tag im schönen Monat Juni geschah es schließlich, dass, während ich in einen Krimi vertieft im Liegestuhl lag und der Kater neben mir auf seiner Frottierdecke die Sonne genoss, die seinen Rücken wärmte, das Telefon klingelte.

Ich stand auf und begab mich in die Wohnung, um den Hörer abzunehmen. Es war eine Freundin von mir, die Beistand während einer akuten Liebeskummerphase benötigte. Während ich ihrer Litanei lauschte, lief ich im Zimmer auf und ab, wie ich dies immer während längerer Telefonate zu tun pflege. Die Balkontür stand offen und so hatte ich den Kater im Blick.

Ich strich einige Male an der Tür vorbei, das Tier lag weiterhin auf seiner Decke. Als ich zum wiederholten Male vorbei schlenderte, erhob er sich gerade und streckte sich ausgiebig. Beim nächsten Blick nach draußen stellte ich fest, dass er seine Stretching-Phase beendet hatte, auf dem Balkon herum schlich und an den Blumen schnupperte.

Ich lauschte weiterhin meiner Gesprächspartnerin und lief auf und ab. Das nächste Mal, dass ich vorbei schlenderte, sah ich, dass der Kater auf der Brüstung saß. Dies war nichts Ungewöhnliches, er hatte dies auch früher schon oft getan. Da Katzen wahre Balancekünstler sind, beunruhigte mich dies nicht weiter. Nach wie vor tigerte ich in der Wohnung auf und ab, dabei gewohnheitsmäßig immer einen Blick nach draußen werfend, sobald ich die offene Tür passierte.

Plötzlich wurde ich stutzig. Da war doch gerade kein Kater zu sehen?

Ich tat zwei Schritte rückwärts. Nein, keine Katze auf dem Geländer. Aber da – was war das? Sah aus, wie zwei Pfoten. Zwei Pfoten??? Das Balkongeländer war wie leergefegt, nur an einer Stelle waren zwei Pfoten zu sehen, die sich krampfhaft festklammerten.

„Oh mein Gott!"

Ich ließ das Telefon fallen und rannte nach draußen. Dort hing Kasimir, tapfer durchhaltend, an der Balkonbrüstung. Als ich ihn mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen hoch- und in meine Arme zog, meinte ich, ein zufriedenes Grinsen in seinem kleinen Katzengesicht bemerkt zu haben.

Inzwischen bin ich umgezogen und lebe in einer Dachgeschoßwohnung – ohne Balkon. Dachgeschoß bedeutet: Schräge Wände und Dachlukenfenster.

Es war erneut im Juni, als sich Kasimirs Freiheitstrieb bemerkbar machte. Der Kater trug noch eine Bandage an der rechten Vorderpfote von seiner letzten Aktion (er war während einer seiner „5-Minuten-Voll-Power-Phase" wie ein Berserker durch die Wohnung geprescht und hatte sich am Ofengitter verletzt). Ich wähnte mich in der trügerischen Sicherheit, dass die Bandage ihn von weiteren halsbrecherischen Aktivitäten bewahren möge. Doch hatte ich die Rechnung natürlich ohne den Kater gemacht.

Ich war gerade dabei, die Wohnung zu putzen, als Kasimir über den frischgeputzten Küchenboden lief, sich darauf niederlegte und herumaalte, bis die ersten Haare auf den noch nassen Fliesen haften blieben. Verärgert nahm ich den Kater auf den Arm und sperrte ihn ins Badezimmer.

Der Boden wurde nochmals von mir gewischt und dann setzte ich mich an den Tisch, um etwas zu trinken. Das Küchenfenster war gekippt. Plötzlich erscholl ein dumpfer Schlag. Ich fragte mich, was das gewesen sein könnte. Ob es aus dem Bad gekommen war? Vielleicht wäre es besser, nachzusehen...

Ich öffnete die Tür zum Badezimmer – ein kleiner, sehr übersichtlicher Raum, mit Toilette, Badewanne und Waschbecken – und war sehr erstaunt, weit und breit keine Spur von meinem Vierbeiner zu sehen. Ich hatte ihn doch hier rein gesperrt, wo war er nur hin?

Mein Blick fiel zur Dachluke. Nein, das konnte doch nicht.... Nicht durch einen solch schmalen Spalt..... Oder etwa doch?! Ich trat zur Dachluke, schob das Fenster noch ein wenig weiter auf und blickte ahnungsvoll auf das rotgeziegelte Dach hinaus. Was mussten meine armen Augen sehen?

Einen grau-schwarz getigerten Kater mit weißer Bandage.

Ich starrte das Tier an, es starrte mich an. Eine Zeitlang rührte sich keiner von uns beiden.

Kasimir war es schließlich, der seinen Blick zuerst abwandte und interessiert eine Taube beobachtete, die auf dem Dachfirst thronte. Die Erkenntnis, dass Katzen bekanntlich mit Begeisterung vorbeifliegende Vögel nicht nur beobachten, sondern ihnen mitunter auch mal nachsetzen, brachte mich in Bewegung. Ich sah Kasimir im Geiste schon, alle Viere von sich gestreckt, vom Dach abheben und gen Erde segeln.

„Kasimir? – Kasimir!"

Ich rief mit lockendem Unterton, doch der Angesprochene schaltete auf stur. Die Taube war faszinierender. Soweit es ging, öffnete ich die Luke und kletterte auf den Badewannenrand. Während ich meinen Oberkörper durch die schmale Öffnung zwängte, rief ich immer wieder: „Kasimir!", „Komm´ her, komm´ zu Frauchen." Ich hätte genau so gut „Oh Tannenbaum" schmettern können, es hätte den Kater nicht weniger beeindruckt. Ich streckte die Hände nach ihm aus und die Finger meiner rechten Hand berührten sein Fell.

Kasimir wandte sich um, grinste, wie mir schien, und lief auf den Dachziegeln entlang Richtung Taube. Das durfte ja wohl nicht wahr sein!

Ich rief erneut, diesmal nicht mehr lockend, sondern mit drohendem Unterton: „Kasimir! Du kommst jetzt her, sonst......!" Ja, was sonst? Er schien zu wissen, dass ihm nichts passieren würde, denn er setzte seinen Weg unbeirrt fort.

Ich fluchte.

Die Taube schien die Annäherungsversuche meines Katers bemerkt zu haben, denn sie flatterte plötzlich davon. Kasimir schaute ihr enttäuscht nach. Das war meine Chance. Schnell flitzte ich zum Wandschrank, entnahm diesem eine Schachtel mit Trockenfutter und sauste zurück an die Dachluke. Kasimir stand mit ratloser Miene auf dem Dach und wusste offenbar nicht, in welche Richtung er nun laufen sollte.

Ich schüttelte die Packung, das Trockenfutter klapperte verlockend – zumindest kam es mir so vor. Kasimir schaute aufmerksam in meine Richtung und näherte sich einige Schritte. Plötzlich jedoch strauchelte er und bemühte sich, seine Balance wiederzufinden. Ich hielt den Atem an und sah ihn bereits, wie einst am Balkongeländer, an der Regenrinne Klimmzüge machen.

Er fand sein Gleichgewicht wieder, blieb stehen und sah zu mir. Offensichtlich hatte er sich an seine bandagierten Pfote erinnert.

Der draufgängerische Ausdruck in seinen grünen Augen war einem unsicheren und ängstlichen gewichen. Beruhigend redete ich auf ihn ein. Inzwischen hatte ich mir einige Brocken Futter auf die Hand gestreut und hielt sie ihm hin. Zwar konnte ich sehen, dass ihm das Wasser im Mäulchen zusammenlief, doch offenbar getraute er sich nicht, noch einen weiteren Schritt zu tun.

Ich warf ihm einige Bröckchen hin, um ihn zu ermutigen. Zaghaft machte er einen weiteren Schritt nach vorn, doch wieder war er kurz davor, wegzurutschen. Erneut blieb er ratlos stehen und starrte hilfesuchend zu mir hinüber.

Meine Rufe wechselten in der gesamten Bandbreite von lockend, drohend, ängstlich, fluchend, bis hin zu bettelnd und flehend. In meinem Kopf spielten sich schlimme Szenarien ab: Der Kater stürzte vom Dach. Er hing hilflos zappelnd an der Regenrinne. Er musste von der Feuerwehr vom Dach geholt werden. Er lief auf dem Dach das komplette Reihenhaus entlang und verschwand spurlos....

Ich musste ihn endlich vom Dach herunter bekommen; mittlerweile agierte ich immer hektischer.

Plötzlich schien es sich Kasimir wieder anders zu überlegen. Er humpelte vorsichtig von mir weg in die entgegengesetzte Richtung.

„Kasimir! Was zum Henker...?! – Komm´ sofort zurück!!"

Während ich mit ängstlich klopfendem Herzen den Weg meines Stubentigers verfolgte, fiel mir auf einmal das Fenster des Dachbodens, der neben meiner Wohnung liegt, auf. Es war gleichfalls schräg, besaß jedoch ein anderes Schließsystem und ließ sich ganz öffnen. Außerdem war es größer und niedriger angesetzt, als die Luke meines Badezimmers.

Ich flitzte hinüber zum Dachboden und öffnete dort das Fenster sperrangelweit. Kasimir stand in fast greifbarer Nähe vor mir und blickte irritiert zu mir empor.

„Komm´ her, mein Schatz, komm´!"

Ich lehnte mich so weit aus dem Fenster, wie es möglich war, ohne abzustürzen und renkte mir fast die Schultergelenke aus, bei dem Versuch, dem Tier meine Arme möglichst weit entgegen zu strecken. Ich flehte ihn an, doch zu mir zu kommen und tatsächlich: Mit unsicheren Schritten näherte er sich mir.

Kurz darauf bekam ich das linke Vorderbein zu fassen und um nichts in der Welt hätte ich es wieder losgelassen. Kasimir warf mir einen verdatterten Blick zu, ich zog an seinem Bein. Nun bekam ich auch das rechte, bandagierte Bein zu fassen, hier packte ich jedoch vorsichtiger zu. Ich zog und zerrte, konnte ihn wenig später um den Bauch fassen und zu mir hereinheben.

Erleichtert und glücklich drückte ich den kleinen Ausreißer an mich und auch Kasimir schien froh zu sein, dass sein Ausflug glimpflich zu Ende gegangen war, denn er schmiegte sich an mich und schnurrte sofort in meine Halsbeuge.

Seither bin ich glücklicherweise von weiteren Ausbüchsaktionen verschont geblieben, was auch mit Sicherheit damit zu tun haben mag, dass der Kater allmählich in die Jahre kommt und ruhiger wird. Nur sein Lieblingsspiel: „Wir spielen Nachlauf mit Frauchen im Treppenhaus" mag er einfach nicht aufgeben.

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Ende

© T. Schwark 2006

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